Wayne interessierts...?

Wayne am Telefon

Lieber Xxx,
das neue Jahr steckt noch in seinem Strampelanzug. Mit rosiger Haut und dem Duft der Unschuld ist es wieder bemüht, uns unsere Sehnsucht des alljährlichen Neustarts des eigenen Lebens zu spiegeln. Als ob das am 1. Januar als ein weißes, unbeschrieben Blatt Papier beginnt und wir, aus unseren ganz persönlichen Erfahrungen profitierend, einen glatten Neustart hinlegen können – was für ein Quatsch. Es geht so weiter wie es endete, schlimmer noch, denn jeder hat nur einen Take. Zumindest wurde ich von der üblichen Rechnungsflut, die gewöhnlich in der ersten Woche des Jahres über mich hereinbricht, verschont. Die erhöhten Beitragsätze diverser Versicherungen erreichten mich noch vor Jahresausklang. Unser einem, wie ich Freischaffendem, steht ja das Wasser nicht nur bis zum Hals sondern bis zur Unterlippe. Der größte Teil von mir befindet sich sowieso stets unter Wasser. Aufgedunsen und weiß wie ein toter Fischleib hängt er an dem Rest von mir, dem Teil, der verzweifelt nach Luft schnappt. Aber bevor ich mich ganz in Hausfrauenprosa verliere, will ich anmerken: noch hab ich einen Puls! Oder sage ich besser wir?

Musikalisch begann das Jahr für uns in der Weinhandlung Leydicke
Als Jahresauftakt, sozusagen. Sehr ungewöhnlich für uns, zumal wir den Laden erst zur Nikolausparty so richtig gerockt haben. Wie schön, das es in dieser schnelllebigen Zeit noch Dinge gibt , die sich nie zu verändern scheinen und auch nur ganz leicht variieren. Dazu gehört für uns der Gig in dieser jahrhundertalten Weinhandlung. Mit all seinen Abläufen, Unikaten und Schrullen. In den vielen Jahren gleichen Gigs und Abläufe; das Erlebte verschwimmt zu der verklebten breiigen Masse einer einzigen Nacht: ohne Anfang und Ende. Das Bier tröpfelt spärlich aus dem Hahn, wie schon zu Urzeiten. Sehr zum Leid der durstigen Kehlen, die sich ein Bier erhoffen. Im Winter ist der Laden anfangs stets eiskalt und ungeheizt, im Sommer droht der Hitzekreislaufkollaps und stetig dem Gast seitens des Wirtes ein rüder Pöbelton. Wer nicht genug trinkt, fliegt raus. Getreu in Tradition der Ur-Mutterwirtin Lucie Leydicke. Kein geheucheltes Getue des florierenden Dienstleistungssektors Gastronomie in Berlin. Hier ist der Gast noch lästig! Das darf gespürt werden.

Wir spüren uns auch, aber anders. All unsere Hoffnungen, das vielleicht dieses Mal der Laden leerer bleiben könnte, zerschlugen sich schon nach den ersten angespielten Riffs. Die feierwütigen Menschenmassen verstopften auch in dieser Nacht wie eh und je die altehrwürdige Tränke und ließen keinen Platz zur persönlichen körperlichen Entfaltung. Ab dem ersten und bis zum letzten Song wurde getanzt. Die Luft im Inneren des Ladens- sofern die Blase des Restgemischs aus ausgeschiedenem Kohlenmonoxid, Nikotin und Alkohol(ausdünstungen) auch nur im Ansatz mit diesem Wort in Verbindung gebracht werden kann – ließ sich alsbald in Scheiben schneiden. In keinem U-Boot nach monatelanger Tauchfahrt im 2. WK kann die Luft schlechter gewesen sein. Spätestens nachdem Raimon, der Wirt, seine obligatorische Tanzeinlage mit Tresenkraft Nancy (aus Marzahn!) auf dem Tresen im eigens dafür angefertigten Hut sowie Glitzerjacket absolviert hatte, tobte der Mob und feierte, als gäbe es kein Halten oder Morgen. Kinderspielzeug aus China in Form von Plastikrasseln und Tuten wurden wieder verteilt und animierten zum Mitmachen. Nach dem glücklosen Versuch vom Wirt, das knochentrockene und über hundert Jahre alte hölzerne Interrior der Weinhandlung mittels eines Indoor-Feuerwerkes in Asche zu legen, überließ er seinen gescheiterten Versuch einem Profi.

Das war die Stunde der Überraschung in Form der Feuershow. Würdevoll dargeboten, wieder auf dem Tresen, von einer gelenken und durchaus sehr attraktiven Dame mit Atztekenantlitz einer Yma Zuma zu ebensolcher Hintergrundmusik. Sehr stilvoll. Wenn ich da an vergangene Überraschungen denke, z.B. die Dudelsackspieler, gefriert mir heute noch das Blut in meinen Adern. „Amazing Grace“, dargeboten auf dem Dudelsack von Opis im Schottenrock mit gelben, unbehaarten krummen Beinchen. Mein persönlicher Albtraum! Und komplett unsexy obendrein. Auch lange nicht mehr gesehen, aber sehr viel anschaulicher und ebenfalls als „die Überraschung“ angekündigt: die drei Can-Can-Girls fortgeschrittenen Alters, welche zu meinen persönlichen Favoriten zählen. Die sich wahlweise in knallroten Kunstlederhosen zu Volksweisen auf die welken Schenkel schlagen oder aber, mir noch viel lieber, sich im Sumoringerfettkostüm, lasziv wie pralle rosa Schweinderl zum Schlachtfest, rhythmisch auf dem Tresen winden. Herrlich!

Aber ich möchte Dich nicht mit Geschichten aus meiner Vergangenheit langweilen. „Die Überraschung“ ist uns Musikern jedesmal ein Graus, weniger als solche, eher die sich unendlich vor uns ausstreckende ermüdende Zeitspanne des Nichtstun. Eher schwache Gemüter von uns verfallen dann dem scheinbar trostspendenden Alkohol. Sehen sich dann urplötzlich, wie aus einem tiefen Schlaf gerissen, mit der Realität konfrontiert, ein zweites Set zur späten Stunde absolvieren zu müssen. Das kann schon mal ins Auge gehen. Aber wir sind ja erfahrene Matrosen und auf so mancher Galeere des Rock'n'Roll durch die endlose Weite der Meere gepflügt...

Das war's für heute, mein lieber Xxx.

Gehab dich wohl,
Dein Wayne